Das Simultanrating ist ein computergestütztes System zur kontinuierlichen on-line Registrierung und Auswertung subjektiver Verhaltensreaktionen.
Messungen des subjektiven Erlebens bzw. subjektive Beurteilung von Reizsituationen erfolgen üblicherweise mit Hilfe von Fragebogen-Verfahren oder retrospektiven Ratingskalen. Obgleich diese Verfahren einen festen Platz im Methodenarsenal der Verhaltensdiagnostik einnehmen, ist ihre Anwendung für viele Fragestellungen mit erheblichen Nachteilen verbunden. Diese Nachteile werden größtenteils dadurch bedingt, dass die Einschätzung des subjektiven Erlebens erst nach Beendigung der interessierenden Reizsituation, also retrospektiv, erfolgen kann. Neben gedächtnisbezogenen Verzerrungen des Urteils ist einer der gravierenden Mängel dieser Vorgehensweise darin zu sehen, dass keine Möglichkeit besteht, Verlauf und Veränderung des subjektiven Erlebens über die Zeit hinweg zu erfassen, wodurch die abgegebenen Urteile auf eine pauschale Einschätzung der Gesamtsituation beschränkt bleiben.
Das Simultanrating vermeidet diese Nachteile dadurch, dass es Art und Ausprägungsgrad des subjektiven Erlebens kontinuierlich online über die gesamte Dauer der interessierenden Reizsituation hinweg erfasst.
Dies bedeutet:
- keine Verzerrung durch Gedächtniseffekte
- Möglichkeit zur Durchführung von Verlaufsmessungen des subjektiven Erlebens über beliebig lange Zeitspannen
- differenzierte Analyse der Reaktionen auf einzelne Phasen oder Szenen in einer Reizsituation, z.B. während eines gezeigten Films, durch Zuordnung des zeitlichen Ablaufs der Reizsituation zum zeitlichen Ablaufs des Simultanratings.
- Erfassung der zeitbezogenen Kovariation von Veränderungen des subjektiven Erlebens mit Veränderung bei kontinuierlich messbaren physiologischen Reaktionen wie z.B. Herzrate, elektrodermale Reaktion, Impedanzkardiographie, Atmung, Elektromyographie.

Messprinzip
Die Messwertaufnahme erfolgt über eine kontinuierliche manuell-motorische Reaktion des Probanden. Als Messwandler dient dabei eine drehbare Ratingscheibe. Die Ratingscheibe hat eine Vertiefung zur Aufnahme des Zeigefingers. Sie wird durch den Zeigefinger gedreht, wobei die Position des Zeigefingers dem jeweiligen Ausprägungsgrad des subjektiven Erlebens auf der manuell-motorischen Ratingskala entspricht.
Insgesamt erlaubt die Ratingskala eine halbkreisförmige Bewegung des Fingers (0–180°), wobei im Normalfall, d. h. bei rechtshändiger Ausführung des Ratings, die Position des Fingers am linken Skalenanschlag (0°) einem „minimalen Ausprägungsgrad“ des jeweils gemessenen subjektiven Erlebens entspricht, wohingegen die Position am rechten Skalenanschlag (180°) einem „maximalen Ausprägungsgrad“ entspricht.
Soll z. B. ein Proband die Höhe seiner momentanen emotionalen Erregung während einer Filmdarbietung beurteilen, so bewegt er dazu über die gesamte Filmdarbietung hinweg die drehbare Ratingscheibe entsprechend der Höhe seines aktuell erlebten Erregungsgrades zwischen beiden Skalenanschlägen.
Anwendungsbereiche
Psychophysiologie
Analyse der intraindividuellen Kovariationen zwischen Veränderungen des subjektiven Erlebens und Veränderungen bei kontinuierlich meßbaren psychophysiologischen Reaktionen (Herzrate, elektrodermale Reaktion, Muskelspannung, impedanzkardiographische Maße wie Schlagvolumen, PEP, LVET, usw.) bei simultaner Messung über beliebig lange Zeiträume.
Werbeforschung
Detaillierte szenenbezogene Analyse subjektiver Reaktionen (Interesse, Zustimmung, Ablehnung, spezifische Emotionsreaktionen, usw.) auf Filmwerbung.
Klinische Psychologie
Messung von emotionaler Reaktivität, Stimmung und Befindlichkeit spezifischer Patientengruppen in bestimmten Untersuchungssituationen. Analyse subjektiver Befindlichkeit in angstauslösenden Situationen (z. B. durch Filmsequenzen oder reale Objekte), antizipatorische Reaktionen auf phobische Reize. Therapiekontrolle durch Überprüfung der Wirkung therapeutischer Maßnahmen bei Angstbehandlung.
Alexithymie Messung
Messung von Merkmalen emotionaler Wahrnehmung, insbesondere bei Patienten mit eingeschränkter emotionaler Reagibilität auf Reize. Verwendung der Toronto Alexithymie Scale (TAS) als standardisiertes Verfahren.
Schmerzmessung
Messung des Schmerzverlaufs in experimentellen Schmerz-Situationen (z. B. bei Cold pressure Text, thermischer Stimulation, Druckstimulation, Tourniquet).
Emotionsforschung
Verlaufsmessungen emotionaler Reaktionen in spezifischen Reizsituationen.
Hemisphärenforschung
Untersuchung emotionaler Hirnasymmetrien bei lateralisierter Darbietung von Filmreizen.

Pharmakaforschung
Messung der Auswirkungen pharmakologischer Veränderungen auf Befindlichkeit, emotionale Reaktivität, Schmerzerleben oder Wahrnehmungsleistungen.
Wahrnehmungsforschung
Messung der psychophysiaklischen Zusammenhänge zwischen physikalischen Reizmerkmalen (Schallintensität, Beleuchtungsstärke, Druckstärke, Temperatur usw.) und subjektiven Wahrnehmungsmerkmalen (Lautstärke, Helligkeit, Wärmeempfinden, Schmerzempfinden, Latenzzeiten) bei kontinuierlicher Veränderung der Reizwirkung.
Testtheoretische Kennwerte
Einstellgenauigkeit der Ratingpositionierung: Die Ausführung des manuell-motorischen Ratings ist so konzipiert, dass sie in der Regel ohne visuelle Kontrolle erfolgen kann. Die halbkreisförmige Anordnung der Ratingskala erlaubt eine außerordentlich genaue propriozeptive Rückmeldung der jeweiligen Fingerposition, wie sie durch andere Anordnungen auch nicht annähernd erreicht werden kann. In Voruntersuchungen hat sich gezeigt, dass die Einstellgenauigkeit bei ausschließlich propriozeptiver Rückmeldung im Vergleich zur visuellen Kontrolle weniger als 5% beträgt.
Korrelation mit retrospektiv erhobenen Ratingdaten: Das über den Gesamtverlauf der Messperiode errechnete arithmetische Mittel des Simultanratings weist eine mittlere bis hohe Korrelation mit retrospektiv erhobenen Ratingwerten auf. Es hat sich jedoch in allen bisher durchgeführten Untersuchungen gezeigt, dass das kontinuierliche Simultanrating retrospektiven Ratings in seiner Effizienz (z.B. Auswirkungen experimenteller Bedingungen, Gruppentrennungen usw.) deutlich überlegen ist.
Wiederholungsreliabilität: Das Simultanrating weist eine sehr hohe intraindividuell ermittelte Wiederholungsreliabilität auf, wie in verschiedenen empirischen Studien gezeigt werden konnte. Auch die Verlaufsform der zu verschiedenen Zeitpunkten erhaltenen Ratings weisen einen sehr hohen Grad der Ähnlichkeit auf.

Validierungsstudien
- Untersuchungen zur Validität und Brauchbarkeit des Simultanratings umfassten bisher u.a. folgende Anwendungsbereiche:
- emotionale Reaktionen bei Personen mit hoher versus niedriger Alexithymie- Ausprägung
- emotionale Reaktionsmuster bei Patienten mit psychosomatischen Störungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Allergien)
- Zusammenhang zwischen Menstruationszyklus und emotionalen und physiologischen Reaktionen bei Frauen
- Auswirkungen der Mikropille auf die subjektiv-emotionale und psychophysiologische Reaktivität
- emotionale Hemisphärenasymmetrien bei lateralisierter Filmdarbietung
- Hemisphärenasymmetrien bei der Kovariation von subjektiven und kardiovaskulären Emotionsreaktionen