Bedeutung der Herzratenvariabilität als Standardverfahren der autonom-nervösen Funktionsdiagnostik
Der menschliche Organismus ist den ganzen Tag über einer Flut von sich ständig verändernden Umweltanforderungen physikalischer und psychosozialer Natur ausgesetzt. Das Überleben und die Funktionsfähigkeit des Organismus hängen in enger Weise von seiner Fähigkeit ab, einerseits den Körper auf die Anforderungen akuter Belastungsphasen einzustellen, andererseits aber auch nach Abklingen dieser Phasen den Körper wieder in einen entspannten Ruhezustand zu versetzten, damit er sich regenerieren kann.
Aus der engmaschigen anatomischen Kontrolle der vegetativen Körperorgane durch Nervenbahnen des ANS und aus dem weiten Spektrum funktionaler Auswirkungen sympathischer und parasympathischer Aktivierungen lässt sich erahnen, welche weitreichenden pathophysiologischen Auswirkungen Funktionsstörungen des ANS auf Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden eines Individuums haben können, gleichgültig ob es sich dabei um einen generellen Verlust der Regulationsfähigkeit des Gesamtsystems handelt oder, was häufiger der Fall ist, um eine selektive Beeinträchtigung eines Teilsystems mit einer daraus resultierenden Verschiebung der sympatho-vagalen Balance.
Tatsächlich sind Störungen der autonom-nervösen Regulationsfähigkeit unmittelbar in eine Vielzahl von somatischen und psychosomatischen Erkrankungen wie auch von psychischen Störungen involviert, angefangen von Herzarrhythmien, arteriosklerotischen und thrombotischen Gefäßveränderungen, Bluthochdruck, Diabetes, Reizmagen, Fibromyalgie, Kopfschmerz, Schwindel und orthostatischen Belastungsstörungen bis hin zu chronischer Müdigkeit, Burnout, depressiver Verstimmung, Angst- und Panikstörungen sowie verschiedenen somatoformen Störungen.
„Während man in der Vergangenheit davon ausging, dass insbesondere eine häufig zu beobachtende Hyperaktivität des sympathischen Systems der ausschlaggebende Faktor für ein erhöhtes Erkrankungsrisiko ist, hat sich in jüngster Zeit die Auffassung durchgesetzt, dass einer Hypoaktivität des parasympathischen Systems eine weitaus größere Bedeutung für die Krankheitsgenese zukommt.“ – Prof. Dr. Werner Wittling , Neurowissenschaftler
Obgleich das ANS in seinen Grundzügen schon lange bekannt ist, wurde man sich seiner fundamentalen Bedeutung für die menschliche Gesundheit erst Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts bewusst, als die medizinischen Krankheitsmodelle in verstärktem Maße auf die Rolle des Gehirns bei der Entstehung körperlicher Krankheiten hinwiesen (multifaktorielle neurobiologische Störungsmodelle) und anhand zahlreicher experimenteller Befunde aus Stimulationsstudien des Gehirns darlegten, wie das Gehirn über die Beeinflussung des autonomen Nervensystems in die Regulation vegetativer Körperprozesse eingreift und damit die Krankheitsentstehung nachhaltig beeinflusst. Einen besonderen Aufschwung erlebte die ANS-Forschung als sich in den 80er Jahren neben den experimentelle auch die klinischen Befunde dafür häuften, dass Funktionsveränderungen des ANS in einem dramatischen Zusammenhang zur kardiovaskulären Mortalität einschließlich dem plötzlichen Herztod stehen.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt begann eine intensive Suche nach nicht-invasiven Messverfahren des ANS, die in der Lage sind, eine quantitative Analyse und Beschreibung des Funktionszustandes des ANS und seiner beiden Teilsysteme Sympathikus und Parasympathikus bei Gesunden wie auch bei Kranken zu ermöglichen.
Das Verfahren, das diesen Anforderungen zur Zeit am besten gerecht wird, ist unzweifelhaft die Analyse der Herzratenvariabilität (HRV). Die HRV-Analyse ist ein viel versprechendes und rasch expandierendes Verfahren, das in der Zwischenzeit weltweit Akzeptanz als quantitatives Verfahren zur Charakterisierung der autonom-nervösen Regulationsprozesse gefunden hat.
Anwendungsgebiete der Herzschlagvariabilitätsanalyse
Das Verfahren der Herzratenvariabilitätsanalyse findet nicht nur Anwendung in der Herz-Kreislauf Diagnostik, sondern auch bei zahlreichen anderen klinischen Fragestellungen. Die HRV ist in der Zwischenzeit unter anderem als unabhängiger Prädiktor von hoher Aussagekraft für das Mortalitätsrisiko nach Herzinfarkt anerkannt sowie als früher Warnhinweis auf die Entwicklung einer diabetischen Neuropathie. In Anerkennung der großen Bedeutung der HRV-Analyse als quantitatives Maß des autonomen Regulationsstatus haben die European Society of Cardiology und die North American Society of Pacing and Electrophysiology 1996 eine Task Force gegründet mit international reputierten Wissenschaftlern aus den Bereichen Mathematik, Ingenieurwesen, Physiologie und klinische Aufgabe dieser Task Force war es, verbindliche Messstandards für die HRV-Analyse zu entwickeln, Begrifflichkeiten zu definieren, physiologische und pathophysiologische Korrelate zu benennen und erfolgversprechende klinische Anwendungen zu beschreiben.
Im Folgenden finden Sie die wesentlichen Anwendungsmöglichkeiten:
Herz-Kreislauf
- Vorhersage des Risikos für Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems wie z.B. Herzinfarkt und plötzlicher Herztod.
- Risikostratifizierung nach akutem Herzinfarkt.
- Messung der Auswirkung von koronaren Bypass-Operationen.
- Beurteilung der Auswirkungen von Reha-Maßnahmen nach Herzinfarkt.
Diabetes und Medikationskontrolle
- Frühzeitiges Erkennen des Gefährdungsrisikos für diabetische Neuropathie.
- Kontrolle des Therapieverlaufs bei psychophysiologischen Behandlungen mittels Betablockern, Antiarrhytmika, Diuretika und blutdrucksenkenden Mitteln.
- Vorhersage der Überlebenswahrscheinlichkeit von Patienten nach schweren Hirninfarkten und Hirnblutungen.
Stress und Alltag
- Erfassung der individuellen Stressbelastung und Stressresistenz.
- Als Kontrollparameter bei körperlicher Beanspruchung.
- Kontrolle der Auswirkungen eines veränderten Lebensstils z.B. durch Rauchen, Alkohol, Medikamente.
- Erfassung von Gefährdungen aufgrund altersbedingter Veränderungen.
Sport und Fitness
- Messung des Trainingserfolgs bei Leistungssportlern.
- Kontrolle der Auswirkung eines Belastungstrainings.
- Kontrolle der Belastungsintensität zur Vermeidung von Übertraining.
- Anpassung der Trainingsintensität an die individuelle Belastungsfähigkeit.
- Erfassung von Perioden erhöhter Gefährdung bei körperlichen Beanspruchungen.
- Erhöhung der Trainingsmotivation durch Verlaufskontrolle.